« Mit Innovation auf die neue Entwicklungsstufe der Chemie »
Chemie 4.0 ist eine neue Entwicklungsstufe der chemischen Industrie, die durch die Möglichkeit, riesige Datenmengen zu erfassen und zu verarbeiten, zustande kommt. Aus der Digitalisierung, der fortschreitenden Entwicklung technischer Voraussetzungen für die Datenverarbeitung und der zunehmenden Vernetzung von Unternehmen ergibt sich die Chance, eine umfassende Kreislaufwirtschaft unter dem Slogan Industrie 4.0 aufzubauen. Die chemische Industrie nimmt darin einen zentralen Platz ein, der sich auch auf die Oberflächentechnik erstreckt.
Der Vorteil einer umfassenden Kreislaufwirtschaft
Kreislaufwirtschaft, oft als zirkuläre Wirtschaft bezeichnet, orientiert sich am Vorbild der Natur. Dort dienen alle von Lebewesen ausgeschiedenen Abfallprodukte des Stoffwechsels anderen Lebewesen als Nahrung. Der Mensch greift in diesen Kreislauf ein, entnimmt und verändert Stoffe und hinterlässt Abfälle, die sich in Wasser, Boden und Luft anreichern.
Die natürlichen Vorräte an Rohstoffen, Wasser, Luft und Boden sind begrenzt. Würden alle verarbeiteten Stoffe und entstehende Nebenprodukte wiederverwendet, blieben wertvolle Ressourcen erhalten und die Umwelt bliebe intakt. Diese Gedanken liegen dem Begriff „Nachhaltigkeit“ zugrunde. Die Industrie greift diese Gedanken auf uns stellt sie in den Mittelpunkt der Entwicklung zu Industrie 4.0.
Zentrale Rolle der Chemie bei Industrie 4.0
Alles besteht aus Atomen. Nach den Gesetzen der Natur finden sie sich zu Molekülen zusammen oder lösen sich aus Molekülen heraus. Das Aufgabengebiet der Chemie ist es, die Naturgesetze zu nutzen, um Rohstoffe in Produkte mit ganz bestimmten Eigenschaften umzuwandeln. Die Chemiker bringen letztendlich Atome dazu, sich so miteinander zu verbinden, dass die benötigten Produkte gebildet werden.
Prinzipiell ist auch die Umwandlung von Abfallstoffen in brauchbare Produkte möglich. Sollen aber im Rahmen von Chemie 4.0 alle Abfälle zurückverwandelt werden, bekommt die chemische Industrie richtig viel Arbeit. Die schafft sie nur durch tiefgreifende Innovationen und in enger Zusammenarbeit mit allen an der Erzeugung und dem Verbrauch von Wirtschaftsgütern beteiligten Kräften.
Neue Anforderungen an die Entwicklung chemischer Technologien
Die chemische Industrie hat schon lange einen hohen Automatisierungsgrad. Das, was die anderen Industriezweige auf dem Weg zu 4.0 in Angriff genommen haben, ist bei den Chemikern und Verfahrenstechnikern Standard: Rohstoffe in den Betrieb, Überwachung und Steuerung der automatischen Prozesse, Fertigprodukte aus dem Betrieb. Die Möglichkeit, sehr große Datenmengen zu verarbeiten und Netzwerke zu bilden, ist das Neue an Chemie 4.0.
Die maßgeblichen Aufgaben bestehen vor allem in der Entwicklung von innovativen Verfahren
- zur vollständigen Aufbereitung von Nebenprodukten und Reststoffen
- zur effizienteren Rohstoffnutzung
- mit geringem Energieeinsatz
- zur Herstellung langlebiger Produkte und Komponenten
Beispiele dafür sind der Einsatz der Biotechnologie und die Synthese von Grundstoffen aus Kohlendioxid und Wasserstoff. In der Biotechnologie übernehmen speziell gezüchtete Pilze, Bakterien und Algen die Produktion von chemischen Stoffen wie Schmiermittel, Kühlschmiermitteln und Umformschmierstoffe, Bernsteinsäure oder Milchsäure. Das gelingt in Bioreaktoren auf einem deutlich geringeren Energieniveau und mit wesentlich weniger Arbeitsschritten als auf konventionellem Weg.
Mikroorganismen können auch kohlenstoffhaltige Abfälle (z.B. Altöl) in Wasser und Kohlendioxid umwandeln. Das Wasser lässt sich mit Hilfe erneuerbarer Energien in Sauerstoff und Wasserstoff zerlegen. Kohlendioxid und Wasserstoff bilden das Synthesegas. Innovationen in der Oberflächentechnik wie etwa im Teilbereich Lackierung gehen in Richtung zu Verfahren mit niedrigem Energie- und Stoffeinsatz sowie geringem Abfallaufkommen.
Nicht zu vermeidende Abfälle sollen sich gut recyceln lassen.
Die Entwicklung der Verfahren erfolgt zunehmend auf der Grundlage digitaler Modelle. Die Nutzung der virtuellen Realität zu Simulation von Prozessen bedeutet sowohl eine rasche Beschleunigung der Entwicklungsarbeit als auch eine hohe Flexibilität bei der Umsetzung von Kundenforderungen.
Weiterentwicklung der Betriebsmodelle auf das Niveau Chemie 4.0
Chemie 4.0 bedeutet nicht nur, innovative Verfahren zu entwickeln, auch die externen und internen betriebswirtschaftlichen Abläufe müssen an die umfassende Kreislaufwirtschaft angepasst werden. An erster Stelle steht dabei die Intensivierung der Beziehungen zu Kunden und Lieferanten in Netzwerken. Das ist die Grundlage für eine verstärkte Kooperation zwischen allen beteiligten Wirtschaftspartnern. Darauf lassen sich zum Beispiel eine vernetzte Logistik, das Leasing von Prozesschemikalien oder die zielgenaue Entwicklung von Produkten in enger Zusammenarbeit mit den Kunden aufbauen.
Intern ergibt sich durch die intensive Datennutzung eine Reihe von Ansatzpunkten für die Effizienzsteigerung in der Verwaltung, im Vertrieb und im Einkauf. Auch die Produktion gewinnt durch die Erfassung und Auswertung großer Mengen von Messdaten an Wirtschaftlichkeit. Beispielsweise lassen sich die Prozessgrößen (Temperatur, Druck, Konzentration) über ein enges Raster von Messwerten und genaueren Vorhersagen der Trends in wesentlich engeren Toleranzbereichen regeln, was zur maximalen Rohstoffausbeute und hohen Qualität der Produkte führt.
Umdenken in der Wirtschaft
Die Chancen, die sich aus tiefgreifenden Innovationen ergeben, sind stets mit Risiken verbunden. In der Anfangszeit stellen sich gelegentlich “Kinderkrankheiten” ein. Auch die Entwicklung zu Chemie 4.0 verläuft nicht reibungslos. Eine wichtige Frage ist zum Beispiel, wie die Datensicherheit gewährleistet wird, wenn sich die Unternehmen vernetzen. Das betrifft sowohl den unbefugten Zugriff als auch den Verlust der Daten. Sicherheitslücken könnten verheerende Folgen haben.
Ein anderes Problem ergibt sich daraus, dass einige Technologien und damit hergestellte Produkte für immer ausgedient haben werden. Solange die Entwicklung in der schrittweisen Verbesserung bestehender Verfahren (inkrementelle Veränderung) besteht, läuft alles in gewohnten Bahnen. Das ändert sich auf dem Weg zu 4.0. Das Ziel, eine umfassende Kreislaufwirtschaft aufzubauen, ist nur erreichbar, wenn viele heute existierende Produktionsverfahren und Erzeugnisse durch komplett andere ersetzt werden. Es hat zwar in der Geschichte immer Wendepunkte gegeben, bei denen das der Fall war (Beispiel Dampfmaschine), aber heute wirkt sich diese Entwicklungsform (disruptive Veränderung) auf eine Vielzahl von Branchen aus. Die betroffenen Unternehmen müssen sich rechtzeitig neu orientieren.
Auswirkungen von Chemie 4.0 auf die Oberflächentechnik
Der Übergang zu Chemie 4.0 auf dem Gebiet der Oberflächentechnik vollzieht sich in der Digitalisierung der Prozesssteuerung und der Vernetzung der Kommunikation. Die gesamte Wertschöpfungskette erfährt einen Automatisierungsgrad, der sich über die Beurteilung der zu bearbeiteten Werkstücke, die Auswahl der erforderlichen Prozesschemikalien und der zu nutzenden Anlagentechnik, notwendige Qualitätskontrollen bis zur Auslieferung der fertigen Teile erstreckt. Die Anlagenkapazität wird dadurch optimal ausgenutzt, die Prozessparameter werden in engen Grenzen stabil gehalten. Die Ergebnisse automatisierte Qualitätsprüfungen werden direkt in die Prozessteuerung einbezogen.
Badpflege, Badwechsel, die Behandlung von Abprodukten verlaufen nach klar definierten Kriterien. In diesem Zusammenhang ist die Idee vom Leasing der Prozesschemikalien interessant. Die komplette Chemie einschließlich des Recyclings der Abfallstoffe bleibt dabei in den Händen der Lieferanten. Dadurch verlagert sich ihr Gewinn von der Menge verkaufter Produkte zu Stoffen mit sparsamem Verbrauch.
Die Wartung und Instandhaltung der Ausrüstungen läuft ebenfalls über das System. Spezielle Sensoren erfassen Werte, aus denen der Grad von Abnutzungserscheinungen ermittelt wird. Die erforderlichen Maßnahmen werden vom System zeitlich präzise veranlasst. Damit verbundene Anlagenstillstände berücksichtigt das System bei der Produktionsplanung.
Für die Oberflächentechnik ergeben sich aus der Entwicklung zu Chemie 4.0 die Steigerung der Wirtschaftlichkeit, die Verbesserung der Nachhaltigkeit und eine höhere Akzeptanz durch die Kunden.