Die chemische Industrie genießt in Bezug auf Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit mitunter keinen guten Ruf. Dies legt nahe, dass auch die Biokompatibilität in der chemischen Industrie verbesserungswürdig sein könnte. Doch stimmt das wirklich oder ist die Branche durch ein konsequentes Umweltmanagement inzwischen grüner und bioverträglicher geworden?
Was bedeutet Biokompatibilität in unterschiedlichen Kontexten?
Der Begriff der Biokompatibilität findet seinen Ursprung in der Medizintechnik und beschreibt dort vor allem die Verträglichkeit von Materialien mit biologischem Gewebe. Beispiele hierfür sind Implantate oder Stents, die direkt mit Körpergewebe interagieren, ohne schädliche Reaktionen hervorzurufen.

Überträgt man dieses Konzept auf die chemische Industrie, erweitert sich der Anwendungsbereich von der direkten Gewebeverträglichkeit zu einem umfassenderen Verständnis von Umweltverträglichkeit. In der chemischen Industrie umfasst Biokompatibilität daher nicht nur die Interaktion mit menschlichem Gewebe, sondern auch die Wirkung von Chemikalien und Prozessen auf eine breitere ökologische Ebene. Hier wird geprüft, wie Substanzen mit Umweltkomponenten wie Wasser, Boden und Luft interagieren und ob sie ökosystemare Schäden verursachen können. Das Ziel ist es, Materialien und Prozesse zu entwickeln, die umweltfreundlich sind und positive oder zumindest neutrale Effekte auf ihre Umgebung haben.
Als biokompatibel werden Materialien, Produkte und Prozesse bezeichnet, die sich nicht negativ auf lebende Organismen in ihrer Umgebung auswirken. Grundsätzlich werden hierbei drei Gefahrenbereiche unterschieden:
- physikalische Gefahren (z. B. Explosivität, Entzündlichkeit, Strahlung)
- Gesundheitsgefahren (z. B. Vergiftungen hervorrufend, Krebs verursachend)
- Umweltgefahren (z. B. aquatische Toxizität, Freisetzung schädigender Stoffe im Abbauprozess)
Eingeteilt wird die Biokompatibilität in folgende Kategorien
Bioinert
Der Begriff bioinert impliziert, dass es keine chemischen und/oder biologischen Wechselwirkungen gibt und keine toxischen Substanzen freigesetzt werden. 100-prozentige Bioinertheit lässt sich allerdings erst erreichen, wenn sich durch umfassendes Recycling eine Kreislaufwirtschaft ohne unverwertbare Abfälle etabliert hat.
Bioaktiv
Von Bioaktivität ist die Rede, wenn Substanzen auf positive Weise mit biologischen Systemen interagieren. Bioaktive Materialien können beispielsweise genutzt werden, um Gewässer oder verschmutzte Böden zu reinigen.
Biotolerant
Biotolerant sind Materialien und Prozesse, die sich nur minimal auf ihr Umfeld auswirken und erst nach längerer Exposition oder in sehr großen Mengen negative Effekte hervorrufen.

Wie trägt die grüne Chemie zu einer höheren Biokompatibilität in der Chemie bei?
Die grüne Chemie kann die chemische Biokompatibilität auf verschiedene Weise verbessern. Zum einen fördert sie die Verwendung nachwachsender Rohstoffe. Diese sind häufig biologisch abbaubar und zeichnen sich durch eine hohe Umweltverträglichkeit aus. Zum anderen minimiert die grüne Chemie durch Entwicklung umweltschonenderer chemischer Prozesse vor allem in der Industrie die Freisetzung schädlicher Substanzen in die Umwelt. Dadurch sinkt die Belastung für biologische Systeme, während gleichzeitig die Bioverträglichkeit und die Ökoeffizienz steigen.
Grüne Technologien zielen darauf ab, durch eine nachhaltige Produktion den Energieverbrauch zu senken und die Ressourcenschonung voranzutreiben. Das verringert die Umweltauswirkungen und trägt zu mehr Nachhaltigkeit bei. Ein weiteres zentrales Anliegen der Industrie besteht darin, Materialien zu entwickeln, die sich leichter biologisch abbauen lassen. Diese belasten die Umwelt weniger und tragen damit zu einer höheren Biokompatibilität in der Chemie bei. Dazu gehören wasserbasierende Industriereiniger, wassermischbare Kühlschmierstoffe, VOC-reduzierte biologisch abbaubare Spülmedien und vieles mehr.
Darüber hinaus fördert die grüne Chemie die Kreislaufwirtschaft. Durch Stoffkreisläufe zur Wiederverwertung von Materialien und die Dezimierung von Nebenprodukten werden Abfälle minimiert. Das bedeutet mehr Ressourcenschonung, einen nachhaltigen Beitrag zum Umweltschutz und höhere Bioverträglichkeit der chemischen Industrie.

Wie lässt sich eine bessere Biokompatibilität in der Chemie erreichen?
Die Möglichkeiten sind vielfältig. Bereits die Auswahl der Ausgangsstoffe kann sich positiv auswirken. Je biokompatibler und nachhaltiger die Materialien sind, desto höher ist meist auch die chemische Biokompatibilität des Produktes. Wo keine geeigneten Substanzen vorhanden sind, kann eine gezielte interdisziplinäre Forschung neue Ansätze liefern und die Entwicklung vorantreiben.
Der Umstieg auf eine saubere, nachhaltige Produktion gemäß moderner Umweltstandards hilft, die Freisetzung von Schadstoffen zu minimieren, und trägt damit ebenfalls zu einer höheren Biokompatibilität in der Chemie bei. Wichtige Maßnahmen sind:
- Implementieren von Lean-Methoden zur Reduzierung von Ressourcenverschwendung und zur Verbesserung der Ökoeffizienz,
- Automatisierung monotoner und repetitiver Aufgaben, um den Produktionsprozess zu beschleunigen und menschliche Fehler zu minimieren,
- Umstellung auf umweltfreundlichere, weniger toxische Prozesse,
- Einbinden von Verfahren zur Reduzierung von Abfällen,
- Schaffung möglichst geschlossener Stoffkreisläufe durch Recycling und Wiederverwertung von Nebenprodukten,
- Identifizierung und Nutzung von Energieeinsparpotenzialen (z. B. Einsatz energieeffizienterer Maschinen und Prozesse) sowie
- Integration von Big Data, IoT und KI zur Echtzeitüberwachung und Optimierung von Produktionsprozessen.
Ebenfalls wichtig für das Erreichen einer höheren Biokompatibilität in der Chemie ist ein ganzheitliches Qualitäts- und Umweltmanagement, das sicherstellt, dass sämtliche Materialien, Prozesse, Produkte und das Unternehmen selbst alle geltenden gesetzlichen Vorgaben und internationalen Standards erfüllen.
Welche ISO-Normen sind wichtig für die Gewährleistung der Biokompatibilität in der Chemie?
Zu den relevantesten Regelwerken zählen die ISO-Normen der 10993-Reihe und die REACH-Verordnung. Erstere dient vorrangig der biologischen Beurteilung von Medizinprodukten. Die Zertifizierung der Biokompatibilität medizinischer Werkstoffe und Produkte erfolgt nach dieser ISO, die aus insgesamt mehr als 20 Teilen besteht. Einige davon lassen sich auch auf andere Bereiche der Chemiebranche anwenden. Das gilt beispielsweise für:
- die ISO 10993-5: Prüfungen auf In-vitro-Zytotoxizität,
- die ISO 10993-12: Probenvorbereitung und Referenzmaterialien sowie
- die ISO 10993-18: Chemische Charakterisierung von Werkstoffen.
Die REACH-Verordnung hat zum Ziel, ein hohes Niveau für den Schutz der menschlichen Gesundheit und den Umweltschutz zu erreichen. Sie besagt, dass in ihren Geltungsbereich fallende Stoffe und Stoffgemische registriert werden müssen, die in Mengen von ab einer Tonne pro Jahr in der EU hergestellt oder in die EU importiert werden.
Die erfassten Substanzen werden von der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) bewertet. Vom Ergebnis hängen weitere Anforderungen und Auflagen wie Zulassungen oder Beschränkungen ab. Unternehmen, die eine entsprechende Zertifizierung bekommen, können damit nachweisen, dass sie verantwortungsvoll mit chemischen Stoffen umgehen und die Umweltstandards einhalten.

Wie lässt sich chemische Biokompatibilität messen?
Ob ein Material biokompatibel ist, kann durch verschiedene Tests festgestellt werden. Gängige Methoden sind:
In-vitro-Tests
In vitro bedeutet, dass Versuche nicht in lebenden Organismen, sondern in isolierten Gewebestrukturen, Zellen oder Organen durchgeführt werden. Typische Verfahren sind der Zytotoxizitätstest, der toxische Wirkungen auf Zellkulturen überprüft, der Sensibilisierungstest, bei dem es um allergische Reaktionen geht, und der Hämolyse-Test, der misst, ob ein Material rote Blutkörperchen zerstört.
In-vivo-Tests
Um ihre biologische Verträglichkeit beurteilen zu können, werden Arzneimittel und Medizinprodukte zum Teil an Tieren getestet. Die Forschung arbeitet mit Hochdruck daran, alternative Testmethoden zu entwickeln, die Tierversuche überflüssig machen oder zumindest auf ein unerlässliches Maß zu verringern.

Chemische Charakterisierung
Hierbei geht es darum, festzustellen, ob Materialien schädliche Chemikalien freisetzen oder unerwünschte Substanzen enthalten. Beides kann Hinweise auf die Biokompatibilität und die Umweltverträglichkeit liefern.
Langzeitstudien
Manchmal zeigen sich nachteilige Einflüsse chemischer Substanzen erst nach Jahren. Deshalb ist es wichtig, die Bioverträglichkeit von Materialien über einen langen Zeitraum hinweg zu überwachen.
Biokompatibilitätsprüfungen sind feste Bestandteile der Beurteilung biologischer Risiken. Wichtige Elemente des Risikomanagementprozesses und somit auch der Verbesserung der Biokompatibilität in der Chemie sind der biologische Bewertungsplan (BEP) und der biologische Bewertungsbericht (BER).